Wie sich die Kunststoff- und Elektroindustrie formte

Entwicklung der kunststoffverarbeitenden Industrie

Die Ursprünge der kunststoffverarbeitenden Industrie in Deutschland gehen auf die Zeit nach 1900 zurück. Den Durchbruch brachte 1907 die Entdeckung von Bakelit, dem ersten synthetischen Kunststoff. Dieser eignete sich als elektrischer Isolator und wurde von der aufstrebenden Elektroindustrie eingesetzt. Einen weiteren Durchbruch brachte die Entwicklung der Polymerchemie durch den Chemiker Hermann Staudinger in den 1920er Jahren. Auf dieser Basis wurden 1933 erstmals Polyethylen und Plexiglas hergestellt. Kurz darauf gelang es deutschen Wissenschaftlern, Polystyrol und Polyvinylchlorid (PVC) zu synthetisieren. Eine entscheidende Rolle in der Entwicklung und Herstellung von Kunststoffen spielte der Chemie- und Pharmakonzern IG Farben.

 

Zu den Pionieren auf diesem Gebiet gehörte der Coburger Unternehmer Hermann Ros, der 1926 das erste Kunstharz-Presswerk Bayerns eröffnete. Basis für die Herstellung von Kunstharzen war unter anderem Bakelit. Die Produktion der Firma Ros umfasste Kunstharz-Pressteile sowie Spritzteile für thermoplastische Massen. Noch heute ist das Unternehmen für die Herstellung komplexer Produkte aus Duro- und Thermoplast bekannt. Durch die zahlreichen Erfindungen in der deutschen Chemieindustrie erlebte die kunststoffverarbeitende Industrie auch im Raum Coburg ihre erste Blüte. Es entstanden neue Betriebe, wie 1933 das Presswerk des jüdischen Chemikers Alfred Sadler in Coburg. Das 1937 in Konkurs gegangene Unternehmen wurde daraufhin von Oskar Gaudlitz übernommen, der nach eigenen Zeichnungen und Mustern Kunstharzpressteile herstellte. Insgesamt zeichnete sich die Produktpalette dieser Branche im Raum Coburg durch eine große Vielfältigkeit aus. Produziert wurden damals von Pfeifen- und Zigarettenspitzen über Knöpfe und Telefonzubehör bis hin zu Schraub- und Steckverschlüssen für Flaschen. Noch heute ist das Unternehmen ein Spezialist im Spritzguss und Spritzprägen und umfasst die gesamte Bandbreite der technischen Duroplast-, Thermoplast- und Silikonverarbeitung.

Entwicklung der Elektrotechnik

Diese Entwicklung legte die Basis für die Etablierung der elektrotechnischen Industrie im Raum Coburg. Dieser Industriezweig nutzte Kunststoffe als Isolationsmaterial für elektrische Leitungen und Bauteile. Die Firma Siemens machte 1936 mit ihrem Kabelwerk in Neustadt bei Coburg den Anfang. Nach 1945 begann in dieser Branche eine Periode des raschen Wachstums, die die früheren wirtschaftlichen Erfolge der kunststoffverarbeitenden Unternehmen in den Schatten stellte. Der Bedarf an Kunststofferzeugnissen nahm besonders bei den thermoplastischen Werkstoffen sprunghaft zu. Neue Betriebe entstanden im Raum Coburg, wie die Firma Sauer in Neustadt, die seit 1957 Kunststoffverpackungen herstellt. Die Firma Siemens reagierte ab 1960 auf diese Entwicklung mit dem Ausbau ihres Standorts in Bad Rodach, der neben Elektroporzellan auch Kunststoffe als Isolationsmittel herstellte. Hinzu kam die Weiterverarbeitung der erzeugten Formteile zu Baugruppen wie Klimaanlagen oder Heizungs- und Belüftungsanlagen.

Ein weiterer Schwerpunkt der elektrotechnischen Industrie war die Lampenfertigung, insbesondere die Herstellung von isolierten Stromzuführungen. Diese Leitungen wurden oft von den Lampenfabriken selbst hergestellt. Nach dem Zweiten Weltkrieg machte sich die Rödentaler Firma Wöhner auf dem Gebiet des elektrischen Installationsmaterials einen Namen. Auf der Grundlage von Porzellan- und Pressmassen wurden dort Sicherungsteile, Klemmen, Fassungen und Steckermaterial hergestellt. Das innovative Unternehmen entwickelte 1980 die 60-mm-Sammelschienen-Systemtechnik und sechs Jahre später den ersten Sammelschienen-Adapter. Damit wurde die Firma, die heute 362 Mitarbeiter beschäftigt, ein Spezialist für Sicherungs- und Sammelschienensysteme im Bereich der Steuerungstechnik, Energieverteilung und der erneuerbaren Energien.

1980 stellte die elektrotechnische und kunststoffverarbeitende Industrie mit etwa 4.620 Angestellten den zweitgrößten Industriezweig der Region dar. Das entsprach einem Anteil von rund 11 Prozent an der Gesamtproduktion des Coburger Wirtschaftsraumes. Allein die Firma Siemens beschäftigte damals an ihren beiden Standorten rund 3.200 Mitarbeiter. Bis zum Jahr 2000 verkaufte das Unternehmen beide Standorte an den amerikanischen Corning-Konzern (Neustadt bei Coburg) und an den französischen Autozulieferer Valeo (Bad Rodach).